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Ab in den Dschungel: Ein Framework für natürliches, menschenzentriertes Lernen

Wenn Sie verändern möchten, wie Menschen lernen, sollten Sie beim Entwerfen einer entsprechenden Lösung Ihre Mitarbeitenden in den Mittelpunkt Ihrer Strategie stellen. Es ist sicherlich wesentlich einfacher, Ihre Lösung innerhalb der Grenzen und des Fachwissens eines L&D-Teams zu entwickeln. Das kann aber zur Folge haben, dass Ihre neue Lerninitiative schlicht und einfach nicht genutzt wird. Außerdem ist eine solche Lösung wesentlich weniger erfolgversprechend.

Stattdessen sollten Sie unbedingt den Status quo erforschen – die Bedürfnisse, Ziele, Bestrebungen und Perspektiven aller Ihrer Mitarbeitenden, die da draußen im Dschungel des Berufsalltags und außerhalb der vier Wände Ihrer L&D-Abteilung arbeiten.

Auf dieser Grundlage können Sie dann Strategien entwickeln, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und ihn proaktiv zu neuen Arten des Lernens führen. 

Sehen wir uns zunächst an, wie Sie sich ein umfassendes Bild von der derzeitigen Situation in Ihrem Unternehmen machen können. Damit schaffen Sie eine gute Handlungsbasis und ein Framework für die Entwicklung eines natürlichen, menschenzentrierten und praxisorientierten Lernens.

Das Verständnis für Ihre Mitarbeitenden, fördert das Engagement

L&D-Profis haben oft eine gemeinsame Vision: dass Mitarbeitende ihren Lernbedarf decken, von einem Ort aus auf alle Lerninhalte zugreifen und mit Expert:innen in Ihrem Unternehmen in Kontakt treten können, die sie in ihrer beruflichen Entwicklung unterstützen.

Nehmen wir an, Sie möchten eine Learning Experience Platform (LXP) einführen, weil Ihre Mitarbeitenden deutlich gemacht haben, dass sie sich eine modernere und schnellere Art des Lernens wünschen.

Bevor Sie überhaupt mit der Entwicklung Ihrer Lösung beginnen, müssen Sie zunächst verstehen, wie Ihre Mitarbeitenden lernen und wie genau die Lernerfahrungen aussehen. Was erwarten die Mitarbeitenden von ihren Lernerfahrungen? Womit sind sie unzufrieden? Was schätzen sie an Ihrer derzeitigen Lösung? 

Auf dieser Basis können Sie nun eine Lösung entwickeln, die konkret echte Ziele unterstützt. Möglicherweise entspricht dieser Ansatz aber nicht Ihren Vorstellungen, weil Sie bereits einen oder zwei Schritte weiter sind: „Wir haben unsere Lösung bereits ausgewählt und sind bereit, sie zu implementieren“ oder „Wir haben bereits eine Lösung implementiert und müssen die Akzeptanz fördern“.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sie verstehen, wie Ihre Mitarbeitenden derzeit lernen – unabhängig davon, in welcher Phase Sie sich gerade befinden. Dieses Verständnis wird Ihnen helfen, die richtigen Leute anzusprechen und Folgendes zu schaffen:

  1. Ihre Lösung erfolgreich zu implementieren,
  2. zu wissen, wie Sie Ihre Strategie kontinuierlich weiterentwickeln können,
  3. klar und überzeugend die Vorteile Ihrer neuen Lernlösung für alle Beteiligten zu präsentieren – von der Geschäftsleitung bis zur Basis.

In vielen Unternehmen beschweren sich die Mitarbeitenden beispielsweise, sie hätten „keine Zeit zum Lernen“.

Amritha Murali, Head of Learning and Development for Group Functions bei dem in London ansässigen multinationalen Bergbaukonzern Anglo American, hat genau diese Erfahrung gemacht, als sie versuchte, Lernmöglichkeiten in ihren Unternehmen zu fördern. Murali glaubt, dass die Leute sich nicht die „Zeit nehmen“, um eine Lösung für ein dringendes Problem zu finden. Sie tun es, um einen Bedarf zu decken oder eine neue Priorität anzugehen. 

Murali ist außerdem der Meinung, dass die Menschen für sich selbst und ihre eigene Karriere lernen und nicht, weil es von ihnen erwartet wird.

Aber Murali hat genauer nachgefragt und dabei einige interessante Entdeckungen gemacht:

  • Die Mitarbeitenden sehen das Lernen im Unternehmen als etwas anderes an als das Lernen in der realen Welt, obwohl es ein und dasselbe ist.
  • Sie denken, dass Lernen und obligatorische Schulungen das Gleiche sind, obwohl das nicht der Fall ist. Zwar wird auch bei Schulungen gelernt –insbesondere Compliance- und Sicherheitsschulungen –, aber das hier kommunizierte Wissen muss nachverfolgt und den Mitarbeitenden in regelmäßigen Abständen erneut vermittelt werden. Lernen hingegen ist ein kontinuierlicher Prozess, der oft selbstgesteuert ist.
  • L&D-Profis verwenden den Begriff „Lernen“ im Zusammenhang mit Schulungen. Wenn es in einem Unternehmen viele obligatorische Schulungen gibt, kann dies der Etablierung einer positiven Lernkultur im Unternehmen abträglich sein.
  • Im Juni 2022 waren nur 13 % der Lernaktivitäten auf der Lernplattform von Anglo American selbstgesteuert. Der Rest wurde in Form von Pflichtschulungen vorgegeben. Es ist wichtig, zu wissen, dass der Konzern als Akteur in der Bergbauindustrie beträchtliche obligatorische Schulungsanforderungen hat. So soll sichergestellt werden, dass die Angestellten auf sichere, nachhaltige, verantwortungsvolle und geschäftsgerechte Weise arbeiten.

All dies führte zu einer wichtigen Erkenntnis: Wenn das Unternehmen Lernprogramme und -plattformen forciert, ohne einen eindeutigen Bedarf aufzuzeigen, verstärkt sich dadurch die negative Einstellung der Mitarbeitenden gegenüber dem Lernen. Sie haben den Eindruck, Lernen bestünde aus endlosen Schulungen und Abfragen, anstatt es als Mittel für persönliches und berufliches Wachstum anzusehen. Bei der Positionierung einer neuen Lernlösung muss den Mitarbeitenden also deutlich gemacht werden, welches Problem L&D zu lösen versucht – und sie müssen verstehen, welche Vorteile die Nutzung der Plattform bietet.

Daher hat Anglo American viel Arbeit in die Differenzierung der Schulungen gesteckt, um die Mitarbeitenden zu ermutigen, mehr Zeit in persönliche und berufliche Weiterbildung zu investieren. Das bedeutet, dass verschiedene Plattformen, Kommunikationskanäle und Nachverfolgungsmethoden genutzt werden.

Lernen im Arbeitsdschungel – worauf es ankommt

Es ist verlockend, den Austausch mit der Belegschaft zu überspringen und stattdessen einfach Annahmen darüber zu treffen, was in Bezug auf das Lernen funktioniert. Wir alle kennen jedoch die Fallstricke von Annahmen, und es ist unwahrscheinlich, dass alle so lernen, wie Sie es sich vorstellen.

Außerdem macht es Spaß, sich mit anderen auszutauschen. Die Mitarbeitenden kennenzulernen, um ihre Welt und ihre Arbeitsweise zu verstehen, war für mich immer der Höhepunkt eines jeden Change-Projekts.

Es ist wichtig, einen Querschnitt von Personen zu berücksichtigen, der die Vielfalt in Ihrer Zielgruppe repräsentiert. Berücksichtigen Sie abteilungsspezifische Gesichtspunkte (Vertrieb, Finanzen, IT usw.), regionale Gesichtspunkte (Asien-Pazifik, Europa, Nordamerika) und rollenbasierte Gesichtspunkte (einzelne Mitarbeitende, Teamleiter:innen, leitende Angestellte). Weitere wichtige Kriterien sind Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Betriebszugehörigkeit und Fähigkeiten.

Zehn Personen sind ein guter Anfang. Bitten Sie Geschäftsbereiche um Vorschläge, wen Sie einbeziehen sollten, und wählen Sie Mitarbeitende aus, die Sie noch nicht kennen. Am besten beziehen Sie diese Personengruppe während des gesamten Entwicklungsprozesses mit ein und lassen sich regelmäßig von ihr beraten. So stellen Sie sicher, dass Sie eine Lösung für die Personen entwerfen, die sie später auch nutzen sollen. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die Einbeziehung von Endbenutzer:innen in die Entwicklung die Akzeptanz einer Lösung verbessert.

Mit Klarheit beobachten

Stellen Sie sich bei Ihren Entdeckungen vor, Sie wären der berühmte Dokumentarfilmer, Biologe, Naturhistoriker und Autor David Attenborough.* Er zeigt seinen Zuschauer:innen die Tierwelt so, wie sie ist. Attenborough greift nicht in das Verhalten seiner Beobachtungsobjekte ein und erreicht damit, dass sie sich authentisch verhalten.

Wenn Sie Ihre Lernenden beobachten, sollten Sie ebenfalls versuchen, nicht einzugreifen und nicht zu beurteilen. Erkundigen Sie sich bei den Mitarbeitenden, wie sie heute lernen, und stellen Sie ihnen wenn nötig Fragen. Lassen Sie sich zeigen, wie sie lernen, anstatt es sich nur berichten zu lassen.

Hilfreiche Ansatzpunkte für Rückfragen können beispielsweise sein:

  • Verstehen, wie Menschen im Privatleben gerne lernen 
    • Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade beschlossen, etwas für sich persönlich zu lernen. Wie gehen Sie dabei vor? Suchen Sie im Internet, hören Sie sich einen Podcast an, lesen Sie ein Buch? Können Sie mir zeigen, wie Sie das machen?
  • Verstehen, wie Menschen bei der Arbeit lernen 
    • Wie gehen Sie an einen großen Lernbedarf heran (z. B. „Ich muss meine Fähigkeiten, Feedback zu geben, verbessern“)? Durchsuchen Sie Ihre Unternehmensressourcen, sprechen Sie mit Ihren Vorgesetzten, bereiten Sie sich auf eine Präsentation vor …? Können Sie ein Beispiel nennen und beschreiben, wie Sie dabei vorgegangen sind?
    • Wie gehen Sie an eine Situation heran, in der Sie eine dringende Arbeitsaufgabe erledigen müssen, bei der Sie aber nicht sicher sind, wie Sie dies am besten tun? 
  • Positive Lernerfahrungen verstehen
    • Denken Sie an eine positive Lernerfahrung, die Sie gemacht haben. Wodurch wurde sie für Sie zur positiven Erfahrung?
    • Was gefällt Ihnen an den Lernmethoden, die Sie derzeit anwenden? Können Sie mir das zeigen?
  • Negative Lernerfahrungen verstehen
    • Denken Sie an eine negative Lernerfahrung, die Sie gemacht haben. Wodurch wurde sie für Sie zur negativen Erfahrung? Gibt es andere Hindernisse, auf die Sie beim Lernen stoßen?
    • Was ist Ihre größte Enttäuschung über die Art und Weise, wie wir heute lernen? Können Sie mir zeigen, was Sie meinen?

Wenn Sie einen guten Querschnitt Ihres Unternehmens beobachten, bekommen Sie ein Gefühl dafür, wie die Menschen heute lernen und welche Präferenzen sie bei der Erfüllung ihrer Lernbedürfnisse haben.

Nachdem Sie definiert haben, wie Ihre Mitarbeitenden heute lernen, können Sie damit beginnen, Ihre Lösung zu entwerfen, Chancen und Risiken zu identifizieren und Ihre Erfolgsmaßstäbe zu definieren.

Sie können diese Methode auch verwenden, um zu beurteilen, wie eine bestehende Lösung angenommen wird. Beobachten Sie Ihre Lernenden und überlegen Sie:

  • Nutzen die Menschen Ihre Lösung so, wie Sie es erwartet haben?
  • Stimmen Ihre Beobachtungen mit dem überein, was Ihre Lerndaten Ihnen sagen? Wo gibt es Diskrepanzen und wie lassen sie sich erklären?
  • Wie müssen Sie Ihre Engagement- und Enablement-Strategien anpassen, damit die Benutzer:innen die gesamte Lösung ausschöpfen können? 
  • Wie können Sie die aktuelle Lösung anpassen, um Ihre Lernenden besser zu unterstützen?

Wenn Sie sich auf das Lernen im Arbeitsdschungel einlassen und diese Strategien ausprobieren, würde ich mich über eine E-Mail an slyras@degreed.com freuen. Was hat Sie bei Ihren Beobachtungen überrascht? Wie hat Ihnen ein tieferes Verständnis des Status quo in Sachen Lernen geholfen?

Ein letzter Hinweis: Zwei meiner Lieblingsexpert:innen für menschenzentriertes Lern-Design sind Ashley Sinclair und Neil Bedwell. Schauen Sie sich einige ihrer Arbeiten an, um mehr zu erfahren!

Stephanie ist Director of Change Management, Engagement and Adoption im Bereich Degreed Professional Services. Sie arbeitet mit unseren Kunden zusammen, um die spannenden Veränderungen, die Degreed mit sich bringt, erfolgreich zu bewältigen und das Engagement und die Akzeptanz zu erhöhen.

* Sir David Frederick Attenborough ist ein englischer Dokumentarfilmer, Biologe, Naturhistoriker und Autor. Ich habe eines meiner Lieblingsvideos von ihm verlinkt. Es zeigt, wie Einsiedlerkrebse Gehäuse finden, indem sie zusammenarbeiten und ihre Behausungen untereinander tauschen, wenn sie wachsen.